Felsbildforschung

Interpretationsprobleme in der Felsbildforschung

Beitrag aus den Mittteilungen der ANISA

von Herta Mandl-Neumann ©

13. Jahrgang 1992, S. 145 - 152

Die Felsritzbildforschung ist eine relativ junge Disziplin, angesiedelt im Grenzbereich der Humanwissenschaften Geschichte, Volkskunde, Archäologie, Semiologie etc. Sie ist noch wenig institutionalisiert. Was den Vorteil hat, daß konventionelle Selektionstechniken in der Rekrutierung der Forscher noch nicht etabliert sind. Sie ist also noch weitgehend ein Betätigungsfeld für Dilettanten. Diese Bezeichnung soll zunächst einmal im ursprünglichen positiven Sinn verstanden werden, also Liebhaber, die ihre Freizeit und auch viel Geld opfern, um den Geheimnissen dieser Zeichen auf dem Fels nachzuspüren.

Diese Forscher aus Leidenschaft sind zumeist nicht durch den Weg durch die Institutionen verbildet und daher oft kreativer und unkonventioneller als ihre professionellen Kollegen.

Doch kein Licht ohne Schatten: Die Aura des Romantischen und Geheimnisvollen, die dieses Forschungsgebiet für sie so attraktiv erscheinen läßt, umnebelt die Geister manchmal in einem nicht mehr zumutbaren Maß. Nur allzuoft ersetzen visionäre Begabung und überquellende Phantasie das gerade für einen so schwierigen Forschungsbereich nötige kritische Denken.

Zweifellos besteht bei der Interpretation von Bildern, die sehr stark abstrahiert sind oder keine eindeutigen Formen wiedergeben, große Gefahr, subjektiven Täuschungen zum Opfer zu fallen. Oft sagen Deutungen mehr über den Interpreten als über das Interpretierte aus.

Notwendig wäre daher ein methodisches Vorgehen, bei dem die Rolle des Interpreten immer wieder miteinbezogen, jede Hypothese kritisch überprüft und nach Möglichkeit verifiziert oder falsifiziert wird. Da wir es mit mehrdeutigen und vielschichtigen Phänomenen zu tun haben, ist allen monokausalen Erklärungsmustern mit Skepsis zu begegnen. Interdisziplinarität stellt ein wichtiges Postulat dar. Wobei diese nicht mit Vielwisserei verwechselt werden darf. Große Literaturkenntnis ehrt jeden Forscher, doch darf sie nicht dazu führen, daß alles mit jedem verglichen wird, wenn man nur eine noch so entfernte Ähnlichkeit festzustellen glaubt. Daher sollte auch Bescheidenheit den Felsritzbildforscher zieren, eine Bescheidenheit, die ihn eingestehen läßt, daß nicht alles erklärt werden kann.

Wenn Steine reden ...

Der Topos, daß Felsritzbilder Nachrichten aus fernen Zeiten transportieren, findet sich häufig in der Felsritzbildliteratur. Ich möchte diesen Gedanken weiterspinnen und ein Interpretationsmodell vorschlagen, das auf den Erkenntnissen der Kommunikationsforschung basiert:

Das Kommunikationsmodell der eher behaviouristisch orientierten Kommunikationswissenschaft unterscheidet zwischen SENDER, ZEICHEN und EMPFÄNGER.

Der Sender wählt aus einem gegebenen Zeichenrepertoire eine bestimmte Menge aus, die er nach Regeln geordnet (kodiert) über einen sgn. Kanal (Sprache, Schrift, Medien) an den Empfänger übermittelt. Der Empfänger muß, um die Mitteilung dekodieren zu können, über den gleichen Zeichenvorrat und ein identes Regelprinzip verfügen. Auf den Empfänger wirkt der optische und akustische Reiz, den die Zeichenkette bei ihm auslöst, wie ein Signal, das ihn zum Dekodieren veranlaßt. Dieses mechanistische Reiz-Reaktions-Schema hat für uns nur begrenzten Stellenwert, da es einen identen Kode annimmt und die reale Kommunikationssituation durch seinen hohen Abstrahierungsgrad stark verkürzt wiedergibt.

Wir können jedoch Grundelemente dieses Modells ohne weiteres auf die Felsritzbildinterpretation übertragen: Der Sender sei der Schöpfer des Felsritzbildes, die Felsritzbilder selbst seien die Zeichen, der Fels das Medium und der Betrachter der Empfänger.

Dennoch dürfen grundlegende Unterschiede nicht übersehen werden: Zeichenrepertoire und Kode sind nicht deckungsgleich. Das Verständnis kann nicht wie beim realen Sprechakt durch den Kontext bzw. durch das Feedback hergestellt werden. Es handelt sich um eine Einwegkommunikation, bei der der Empfänger zum Interpreten wird und auf sich gestellt die Zeichen deuten muß. - Eine unmögliche Kommunikation also? Ist eine Deutung von vornherein aussichtslos?

Soviel Pessimismus erscheint nicht angebracht. Es ist vielmehr ein Annäherungsverfahren anzuwenden, das sich der zahlreichen Fehlerquellen bewußt ist, die verschiedenen Interpretationsebenen zur wechselseitigen Erhellung heranzieht, aber nicht vermischt.

Welche verschiedenen Ebenen sind nun zu beachten?

a) Die EBENE DER PRODUKTION: Hier soll nach den Bedingungen gefragt werden, unter denen das Werk entstanden ist. Wer war sein Schöpfer? Welche natürlichen Bedingungen hat er vorgefunden? Von welchen historischen, wirtschaftlichen, religiösen, kulturellen und persönlichen Verhältnissen war er geprägt?

b) Die EBENE DES WERKES: Das Werk ist eine Menge von Zeichen, deren Form und Bedeutung festgestellt werden soll.

c) Die EBENE DER REZEPTION: Hier werden die Aufnahme, der historische Standort des Rezipienten sowie die Wirkungs- und Wissenschaftsgeschichte erörtert.

Diese Reihenfolge ist chronologisch und wird sich bei Forschungsarbeiten kaum einhalten lassen, allein zumal die Konfrontation zunächst auf der Ebene des Werkes stattfindet.

Welche Fragen gilt es nun auf welcher Ebene zu stellen? Dies im Bewußtsein der Problematik, daß nur ein Bruchteil der Fragen befriedigend beantwortet werden kann. Vielfach ist eine Antwort nur in Form einer Hypothese möglich.

Eine gewisse Portion spekulativen Denkens und Phantasie ist notwendig, denn rein positivistisches Faktensammeln ist nicht nur wenig produktiv, sondern auch langweilig. Zuweilen sind auch Provokationen durchaus notwendig, um die Diskussion anzuregen.

Doch als unverbrüchliches Postulat sollte gelten, daß Hypothesen als solche erkennbar sind und nicht als die lautere Wahrheit angepriesen werden. Hypothesen stellen vielmehr den Ausgangspunkt für die Forschung dar und nicht das Endergebnis. Der redliche Forscher soll daher auch bereit sein, nach Prüfung von pro und contra seine Eingangshypothese zu revidieren bzw. zu modifizieren. Gerade diese Bereitschaft vermißt man oftmals schmerzlich in der österreichischen Felsritzbildforschung, in der gerne Behauptungen in den Raum gestellt werden, die einzig mit Rekurs auf irgendeine Autorität abgesichert werden, während Autoren mit gegenteiliger Ansicht nicht einmal ignoriert werden.

Wobei letztere Ignoranz - so fürchte ich - nicht einmal auf besondere Bosheit, sondern schlicht auf die Unkenntnis der einschlägigen Literatur bzw. auf Ahnungslosigkeit in bezug auf die Führung eines wissenschaftlichen Diskurses zurückzuführen ist.

Besonders gefährlich sind phantasievolle Behauptungen, wenn sie in Form einer Monographie vorliegen. Eine solche Publikation ist leichter zugänglich und wird schneller populär. Autoren von Büchern werden dann schneller zu Autoritäten, die gläubig zitiert werden, besonders in Werken, die sich nur am Rand mit Felsritzbildern befassen.

Betrachten wir nun die Möglichkeiten und Probleme der einzelnen Interpretationsebenen etwas genauer:

Zu a) Die Ebene der Produktion

Bereits die Frage nach dem Schöpfer der Felsritzbilder und dessen historischem und sozialem Umfeld stellt den Forscher vor schier unbewältigbare Schwierigkeiten. Ist es doch geradezu ein Wesensmerkmal der Felsritzbilder, daß sie nicht signiert und datiert sind. Lediglich rezente Werke, die zwar einen quantitativ beträchtlichen, die Forschung aber nicht sonderlich interessierenden Teil darstellen, bestehen hauptsächlich aus Namen, Monogrammen und Datumsangaben. Vielleicht erwecken sie gerade deshalb auch so wenig Interesse, da ihre Botschaft, nämlich, daß N. N. am Soundsovielten dieses Jahres hier gewesen ist, uns verständlich und zudem äußerst banal ist, während soviel Trivialität unseren Altvorderen nicht gerne zugetraut wird.

Weiters ist festzuhalten, daß Felsritzbildorte nur selten eine einzige Darstellung aufweisen, sondern meist durch längere Zeit genutzt werden, sodaß wir es häufig mit mehreren anonymen Ritzern zu tun haben, die ihre Botschaften neben- und übereinander geritzt haben.

Eine Annäherung könnte über die natürlichen Voraussetzungen erfolgen: Die meisten der bisher bekannten alpinen Felsritzbilder befinden sich an Orten, die sozusagen zur Bearbeitung einladen. Der Fels ist meist feucht, schattig, an seiner relativ glatten Oberfläche hat sich eine leicht ritzbare Verwitterungsschicht gebildet. Nicht nur mystisches Erschaudern, sondern auch rein praktische Gründe sind in Betracht zu ziehen...

Felsflächen dieser Art gibt es unzählige, doch nicht alle sind mit Felsritzbildern geschmückt. Es müssen daher auch Topographie und Geschichte der Region untersucht werden. Gab es im Verlauf der Geschichte für Menschen irgendeine Motivation, diesen Ort aufzusuchen? Verliefen z. B. alte Pfade oder Wege in der Nähe? Wurden Alm-, Forstwirtschaft oder Bergbau in dieser Gegend betrieben? Handelte es sich um ein Jagdgebiet? Können kriegerische oder andere historische Ereignisse Menschen zur Flucht in diese Region veranlaßt haben etc.?

So kann man zumindest bestimmte Menschengruppen als mögliche Urheber annehmen. Eine Bekräftigung dieser Annahme kann auch durch die Art der Darstellung möglich sein: z.B. wenn eine Armbrust oder ein Hirsch in einem Jagdgebiet dargestellt wurden.

Wenn man sich nun mit dem soziokulturellen Umfeld dieser Menschengruppe befaßt, wird man vielleicht auch den Intentionen, aus denen heraus die Felsritzbilder entstanden sind, und deren Bedeutung etwas näherkommen.

Doch Vorsicht! Egal, ob man nun geneigt ist, die Felsritzbilder in der Urgeschichte anzusiedeln oder sie der Volkskultur der Neuzeit zuzuschreiben, in beiden Fällen handelt es sich um Kulturen, deren Träger uns kaum authentische schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben, die uns eindeutig über ihre Gedanken, ihre religiösen Vorstellungen, ihre Sehnsüchte und Ängste informieren.

Aber selbst wenn wir glauben, über eine uns bekannte kollektive Einstellung einer Entschlüsselung näherzukommen, so können wir doch nicht beweisen, daß das ritzende Individuum in seiner aktuellen biographischen Situation von denselben Intentionen geleitet worden ist: z. B. kann ich schwerlich beweisen, daß ein Mensch ein magisches Zeichen im Bewußtsein, einen Zauber auszuüben, in den Fels geritzt hat. Wie viele magische Praktiken vollführen wir in unserem Alltag, ohne das Bewußtsein, einen Zauber ausüben zu wollen. - Oder sagen Sie jedesmal Guten Morgen im Bewußtsein, einen magischen Wunsch auszusprechen?

Gerade die Magie - so scheint mir -, wird sehr häufig für Deutungen mißbraucht. Zwei Vorurteile geistern unerschütterlich durch die Felsritzbildforschung: nämlich, daß die Felsritzbilder uralt seien und magischen Zwecken dienten. Wobei ersteres durch letzteres bewiesen wird und vice versa. Hier finden wir die Verirrungen des aufklärerischen Denkens, das die Welt in einer linearen, stetigen Aufwärtsentwicklung begriffen sieht. Besonders verheerend wirkte sich der Positivismus eines Auguste Comte aus, der drei Stadien (theologisches, metaphysisches und positives) in der Menschheitsgeschichte unterscheidet. In diesem Modell steht die Magie an der untersten Stufe der Geistesentwicklung und daher an deren Anfang. Mit denselben Augen wurden auch die Primitiven betrachtet, wodurch sich vielfach auch unsere Einstellungen gegenüber der Dritten Welt erklären lassen. Wenn wir unsere Welt mit ethnographischem Blick betrachteten, so würden wir durchaus auch in uns den magischen Urmenschen entdecken.

 

 

Zu b) Die Ebene des Werkes

 

Hier geht es zunächst um exakte Dokumentation, nach dem jeweils letzten Stand der Dokumentationstechniken und -methoden ohne Zerstörung der Ritzungen (z.B. ohne Nachritzen oder Abbürsten, damit die Kerben besser ins Bild kommen). Dazu wären etwa folgende Schritte nötig: exakte geographische und geomorphologische Fundortbeschreibung, Ortsangabe nach den Koordinaten der ÖK (Geheimhaltung?), Vermessung, Lageplan, Photographie, Silikonkautschukabzug, Umzeichnung, Beschreibung und Übermittlung an eine zentrale Kartei. Zur zentralen Erfassung der österreichischen Felsritzbilder hat der Verein ANISA ein zentrales Archiv angelegt und auch eigene Formblätter zur exakten Erfassung entwickelt.

Fragen zur Beschreibung wären etwa: Wie viele Darstellungen sind erkennbar? Mit welcher Technik, wie tief wurde geritzt? Wie gut sind die Darstellungen erhalten (dabei ist Bedachtnahme darauf, wie stark sie der Witterung ausgesetzt sind, dringend erforderlich). Stehen sie in Beziehung zu anderen Zeichen derselben Bildstelle (bzw. derselben Region)? Läßt sich aufgrund von Überritzungen eine relative Chronologie aufstellen, oder kann eine solche erreicht werden, indem man sie in Beziehung setzt zu mehr oder weniger genau datierbaren Zeichen (Jahreszahl, Kleidung, Gerät, Waffe)?

Nach dem Vergleich im Kontext der Bildstelle sollte man versuchen, eine Typologie der eindeutig bestimmbaren Darstellungen zu erstellen. Bei der nun folgenden Ausweitung des Vergleichs auf andere Bildstellen derselben Felsritzbildregion sollte man auch fragen, ob die Darstellungen im Rahmen des Üblichen oder ob sie einzigartig sind, aber auch ob es ein ähnliches Darstellungsinventar, ev. sogar mit bestimmbarer Motivation, in der Umgegend, aber lediglich auf anderem Material (Almhüttentüren, -tischen, Holzgeschirr, Altären, Kirchenbänken, Bäumen, Mauern etc.) gibt. Viele Zeichen sind formal so einfach, daß sie ubiquitär sind. Nichtsdestotrotz können sie durchaus vieldeutig im Inhalt sein, sodaß eine fleißige Sammlung von Vergleichsbeispielen aus aller Welt und allen Zeiten nicht unbedingt erhellend wirkt.

Ad c) Die Ebene der Rezeption

Prinzipiell ist jeder, der ein Felsritzbild betrachtet, Rezipient. Gab es aber auch eine intendierte Zielgruppe (was bei Gauner- oder Bettlerzinken anzunehmen wäre)? - Oder richtete sich die Lust, Spuren zu hinterlassen, an alle? War die Motivation das Streben nach Unsterblichkeit, aus dem heraus die Großen dieser Erde Tempel, Pyramiden und Statuen in Stein hauen lassen? Ist das Felsritzbild das Denkmal des kleinen Mannes?

Ritzen wirkt auch häufig als Aufforderung für andere (z. B. Großstadt-Graffiti), das gleiche Verhalten zu setzen.

Auf dieser Ebene muß auch der Forscher als Betrachter sich selbst und sein Umfeld miteinbeziehen und überprüfen. Ebenso gehört dazu die Forschungsgeschichte.

Es ist schon bei diesem groben Überblick ersichtlich, daß bei einer Interpretation das Schema nicht der Reihe nach übernommen werden kann, sondern daß Argumente aus den verschiedenden Ebenen einander wechselseitig erhellen können. Ziel ist eine vielseitige Annäherung zu Interpretations- und Datierungsfragen.

 

 

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